Giotto di Bondone: Leben und Schaffen des Begründers der modernen Malerei

Giotto di Bondone: Leben und Schaffen des Begründers der modernen Malerei
Giotto di Bondone: Leben und Schaffen des Begründers der modernen Malerei
 
Giotto di Bondone (circa 1267—1337) gilt als der Begründer der neuzeitlichen Malerei und damit als eine Schlüsselfigur, die entscheidende Weichen für die nachmittelalterliche Kunstentwicklung gestellt hat. Diese Sicht findet sich jedoch nicht allein in den kunsthistorischen Handbüchern der letzten 150 Jahre, sondern prägt auch schon Aussagen seiner Zeitgenossen und der unmittelbar nachfolgenden Generation. Wir haben es also offenbar mit einer recht alten Stilisierung zu tun, welche die vorangehenden Entwicklungen des 13. Jahrhunderts ausblendet, aber die offenbar in den kunsttheoretischen Debatten des 14. Jahrhunderts wurzelt.
 
 Bedeutung und Wirkung
 
Der älteste Beleg findet sich bei Dante (1265—1329), der in seinem Hauptwerk, der Göttlichen Komödie, folgende Verse schrieb: »Oh eitler Ruhm der Leistung bei den Menschen/wie kurz das Grün am höchsten Gipfel währt/wenn nicht ein Stillstand dumpfer Zeiten kommt/so dachte bei den Malern Cimabue das Feld zu halten, jetzt gilt nur noch Giotto/und in den Schatten trat des anderen Ruhm« (Purgatorio XI, 91—95, Übersetzung K. Vossler). Dante führt hier den Ruhm der Künstler als schlagendes Beispiel an für die Hinfälligkeit jeglichen irdischen Ruhmes, aber er belegt damit zugleich, wie groß der Ruf Giottos bei seinen Zeitgenossen in der Tat gewesen ist. Dies korreliert, wie noch zu zeigen sein wird, auch mit dem sozialen Aufstieg dieses Malers. Sehr viel ausführlicher äußert sich dann Giovanni Boccaccio (1312—1375) in seinem Novellenwerk des Decameron, in dem er mit neuen literarischen Formen und auf erklärtermaßen unterhaltsame Art philosophische Grundprobleme für ein gebildetes Laienpublikum diskutiert. Es ist von besonderem Interesse, dass er in diesem Zusammenhang immer wieder auf die bildenden Künste, insbesondere die Malerei zu sprechen kommt. Eine Reihe von Episoden handelt im Gewand vorgeblicher Künstleranekdoten Probleme der Sinnestäuschung und des Illusionismus ab. An zentraler Stelle, fast in der Mitte des Werkes, in der fünften Erzählung des sechsten Tages, wird der Maler Giotto eingeführt. Boccaccio stellt ihn mit folgenden Worten vor: »Der andere, Giotto mit Namen, hatte einen Geist von solcher Erhabenheit, dass unter allen Dingen, welche die Mutter Natur unter dem Kreislauf des Himmels erzeugt, nicht ein einziges war, das er nicht mit dem Griffel, der Feder oder dem Pinsel so getreu abgebildet hätte, dass sein Werk nicht das Bild des Gegenstandes, sondern der Gegenstand selbst zu sein schien, sodass es bei seinen Werken sehr oft vorkam, dass der Gesichtssinn der Menschen irrte und das für wirklich hielt, was nur gemalt war.« Der Dichter rühmt hier also beim Maler, dass dieser in seinen Bildern alle Gegenstände der Natur so perfekt nachahmen und abbilden kann, dass der Betrachter sie kaum von der Realität zu unterscheiden vermag. Diese genaue Wirklichkeitswiedergabe wird jetzt aber nicht als Ergebnis seiner handwerklichen Fähigkeiten gepriesen, sondern ist Ausdruck seiner Intellektualität.
 
Es ist die geistige Leistung, das heißt die Idee und der Entwurf, welche das überraschend genaue Wirklichkeitsabbild in der Kunst ermöglicht. Boccaccio fährt fort: »Und weil er die Kunst, die viele Jahrhunderte lang unter dem Aberwitz etlicher Menschen begraben war, die mehr um die Augen der Unwissenden zu ergötzen als um den Geist der Weisen zu befriedigen, gemalt haben, wieder ans Licht gezogen hat, darf er verdientermaßen eine der Leuchten des florentinischen Ruhmes genannt werden. ..« In seinen Augen war also Giotto der Erste, der nach Jahrhunderten wieder den Anspruch der Naturnachahmung gegenüber der Kunst erhob und damit, also mit der genauen Wiedergabe der Wirklichkeit, die Kunst wieder zu etwas machte, das den Geist der Weisen zu befriedigen vermochte, mithin zu einer intellektuellen Angelegenheit, die nur von den Gebildeten wirklich zu verstehen ist. Hier offenbart sich ein ganz neues Kunstverständnis, welches die Rolle der bildenden Kunst in der Neuzeit vorbereitet.
 
Der gleiche Gedanke findet sich auch in einem Nebensatz des Testamentes von Francesco Petrarca (1304—1374); dieser war ein Freund Boccaccios und gleichfalls ein Florentiner. In seinem 1361 verfassten Testament vermacht er ein kleines Marienbild, das von der Hand des berühmten Malers Giotto stammt, dem Fürsten Francesco I. Carrara von Padua und charakterisiert dabei dieses Bild mit folgendem Nebensatz: »Die Tafel. .., deren Schönheit die Ungebildeten nicht erkennen, die Meister der Wissenschaft aber bestaunen.« Auch Petrarca streicht damit das intellektuelle Anspruchsniveau der Bilder Giottos heraus, welches der gebildete Fürst in seinen Augen offenbar am ehesten zu schätzen weiß. Diese Äußerungen lassen erkennen, dass man um die Mitte des 14. Jahrhunderts offensichtlich eine radikale Erneuerung der Kunst wahrgenommen hat, die eben durch den Maler Giotto eingeleitet worden war. Diese Pionierrolle wird Giotto das ganze 14. Jahrhundert hindurch und auch im 15. Jahrhundert nicht streitig gemacht. Es ließen sich viele Aussagen anführen, welche dem Tenor Boccaccios folgen; sie stammen aber fast durchweg von Intellektuellen aus Florenz, die sich voller Stolz mit ihrer Heimatstadt identifizieren. Der Ruhm Giottos hat also viel mit dem Patriotismus der Bürger von Florenz zu tun.
 
Festgeschrieben wird diese Sicht dann von Giorgio Vasari — auch er ein Florentiner — in seiner berühmten Sammlung von Künstlerviten aus dem Jahre 1567. Er beginnt seine umfängliche Lebensbeschreibung mit folgenden Worten: »Derselbe Dank, welchen die Meister der Malerkunst der Natur schuldig sind,. .. gebührt dem florentinischen Maler Giotto, weil, nachdem gute Malerei und Zeichnungen durch die Verheerungen der Kriege lange Jahre ganz zugrunde gegangen waren, durch die Gnade des Himmels er allein, obwohl unter noch ungeschickten Meistern geboren, die fast erstorbene Kunst wieder erweckte und so erhob, dass sie vorzüglich genannt werden konnte. In Wahrheit erscheint es als ein seltenes Wunder, wie jene plumpe und ungeschickte Zeit in Giotto so viel hervorrufen konnte, dass die Zeichenkunst, von welcher die Menschen damals wenig oder gar keine Kenntnis hatten, durch ihn wieder ins Leben trat« (I, 7; Übers. L. Schorn, E. Förster). Nach diesem pathetischen Anfang schildert uns Vasari in einer Episode, wie durch einen Zufall das Talent des jungen Giotto entdeckt wurde. Im Alter von 10 Jahren hütete er die Schafe seines Vaters, der ein einfacher Landmann war, und vertrieb sich dabei die Zeit, indem er mit einem zugespitzten Stein eines der Schafe auf den Boden zeichnete. In einer solchen Situation kam der damals berühmte Maler Cimabue vorbei, blieb verwundert stehen und engagierte ihn auf der Stelle als Lehrling. An dieser Anekdote entspricht nichts den historischen Tatsachen, sie ist vielmehr aus Versatzstücken der antiken Überlieferung und ihren Künstlerlegenden zusammengesetzt und wird hier eingefügt, um so wenigstens eine gewisse Art der Erklärung für jenes erstaunliche Faktum anzubieten, dass Giotto quasi aus dem Nichts heraus die Malerei völlig erneuerte. Diese Darstellung Vasaris war ungeheuer einflussreich, und ganz ähnliche Episoden finden sich fortan in zahlreichen Künstlerviten.
 
 Künstlerische Anfänge und sozialer Aufstieg
 
Was wissen wir nun aber wirklich über die historische Person Giotto? Um 1267 wurde er in einem kleinen Ort nördlich von Florenz, Colle di Vespignano, geboren. Sichere Nachrichten haben wir dann aber erst über den etwa 35-Jährigen. So ist belegt, dass er in Padua vor 1305 die Arenakapelle, eines seiner Hauptwerke, mit Fresken ausgeschmückt hat. Zuvor hat er vermutlich bei der Ausmalung der Oberkirche in San Francesco in Assisi mitgewirkt und hat sich offenbar kurz vor 1300 in Rom aufgehalten. Ab 1309 haben wir dann eine vergleichsweise dichte Folge von Dokumenten, die sich auf Giottos unterschiedliche wirtschaftliche Aktivitäten beziehen, so auf Grundstückskäufe und -verkäufe. Aufgrund dieser juristischen Aufzeichnungen wissen wir, dass er sich bis 1328 hauptsächlich in Florenz aufgehalten hat, abgesehen von einem Besuch in Rom vor 1313. Fünf Jahre, von 1328 bis Anfang 1334, lebte Giotto anschließend am Hof des Königs Robert von Anjou in Neapel, dem einzigen Königshof, den es in Italien damals gab. Er war dort als Hofmaler tätig und wurde 1330 zu einem »Familiaris«, einem Vertrauten des Königs, ernannt. Dieser Titel sicherte dem Maler einen vergleichsweise hohen Platz in der Hierarchie des Hofes und gewährte ihm vor allem den direkten Zugang zum Herrscher. Zwei Jahre später war Giottos Position am Königshof weiter gefestigt, denn ab 1332 erhielt er eine jährliche Pension, die ihn finanziell unabhängig machte, da er weder auf Aufträge angewiesen war noch ein festes Soll an Werken abzuliefern hatte. Dieser Aufstieg am Hof ist die Voraussetzung für seine triumphale Rückkehr in seine Heimatstadt Florenz. 1334 wird er als alter, fast 70-jähriger Mann dort zu einer Art Stadtbaudirektor ernannt und leitet bis zu seinem Tod am 8. Januar 1337 auch die Dombauhütte. Sein Begräbnis wird von der Gemeinde finanziert und findet mit großem Aufwand im alten Dom statt. In einer der Chroniken, die über dieses Ereignis berichten, wird sein Alter mit 70 Jahren angegeben; von daher können wir auf sein mutmaßliches Geburtsjahr zurückschließen.
 
Hinter diesen wenigen Fakten verbirgt sich ein sozialer Aufstieg, der glänzender nicht sein könnte. Offenbar aus ländlichen Verhältnissen stammend hat sich Giotto im Alter zwischen 30 und 40 Jahren eine Stellung als anerkannter Bürger erarbeitet, der über so viel Vermögen verfügt, dass er sich eigene Grundstücke kaufen kann und im Darlehens- und Verleihgeschäft tätig wird. Die Begrenzungen dieses städtischen Wirtschaftens lässt er dann als etwa 60-Jähriger hinter sich, als er dem Ruf des Königs Robert nach Neapel folgt. Er ist fortan durch regelmäßige Zahlungen, so etwas wie ein Gehalt, von der Marktlage und dem Bemühen um immer neue Auftraggeberschaft unabhängig. Darüber hinaus erreicht er am Hof eine hohe soziale Stellung, die ihn endgültig zu einem Angehörigen der Oberschicht macht. Erst danach kann er offenbar in Florenz ein derart hohes Amt bekleiden. Das offizielle Begräbnis spiegelt diesen erst kurz vor dem Tode erreichten Status wider.
 
 Arbeit in Assisi
 
Die neue Qualität seiner Malereien, die von den oben genannten Autoren so deutlich herausgestrichen wurde, machte ihn schon zu Lebzeiten weithin berühmt. In verschiedenen literarischen Texten wird auf seine Arbeiten lobend verwiesen, und in einer 1312 bis 1318 verfassten Chronik wird neben zahlreichen politischen und kirchlichen Ereignissen des frühen 14. Jahrhunderts ganz unvermutet Giotto angeführt, der als ausgezeichneter Maler bekannt sei und in Assisi, Rimini und Padua gearbeitet habe. Dieses ungewöhnliche Faktum belegt einmal mehr den großen Ruf Giottos, der eingangs geschildert wurde. Mehr über den Maler Giotto können wir aber allein durch die Analyse seiner erhalten gebliebenen Werke erfahren.
 
Gemeinhin gilt als frühestes Werk der Franziskuszyklus in der Oberkirche von San Francesco in Assisi. Über die Autorschaft jener Bilderfolge, welche die wichtigste Voraussetzung für Giottos späteres Werk bildet, ist in der Forschung lange gestritten worden. Heute neigt die Mehrheit der Fachgelehrten dazu, die erstaunlichen Neuerungen auf die Mitarbeit eben jenes Florentiner Malers zurückzuführen. Die Franziskuslegende bildet den Abschluss dieser umfangreichen Ausmalung und konfrontierte den ausführenden Künstler mit einer vollkommen neuen Bildaufgabe. Die Seitenwände der Kirche sollten unterhalb der Fenster mit großformatigen Bildern gefüllt werden, welche die Legende eines erst vor wenigen Jahrzehnten verstorbenen Heiligen zu erzählen hatten. Weder für den ungewöhnlichen Bildort in Augenhöhe noch für das Thema gab es direkte Vorbilder. Die franziskanischen Theologen konzipierten dabei offenbar nicht nur das komplizierte Programm, welches anhand der Heiligenlegende die Vision einer franziskanischen Theologie entfaltet, sondern sie entwickelten offenbar auch das Konzept, die Zeitgenossenschaft des zu verehrenden Heiligen, ihres Ordensgründers, mit Bildern anschaulich zu machen, deren Wirklichkeitsbezug alles bisher Geschaffene übertreffen sollte. Zum ersten Mal in der Geschichte der nachantiken Kunst sollte also die fiktive Realität des Kunstwerkes mit der erfahrbaren Wirklichkeit des Betrachters vergleichbar sein. Der Entwerfer dieser Fresken meisterte diese Aufgabe souverän. Noch heute beeindrucken diese Bilder in ihrer Anschaulichkeit, die auf eine klare Figurenkomposition und übersichtliche räumliche Bezüge zurückgeht und in auffälliger Weise Versatzstücke der erfahrbaren Wirklichkeit in detailgetreuer Wiedergabe integriert. Minuziöse Stilvergleiche haben bewiesen, dass die ausführenden Maler auch die vorangehenden Fresken, die sich stilistisch in so vielem unterscheiden, ausgeführt haben. Es gab also ein Malerteam, das in Assisi über Jahre hinweg unter verschiedener Leitung tätig war. Innerhalb dieses Teams hat Giotto vermutlich seine Ausbildung erfahren und trat dann am Ende dieses Unternehmens als Entwerfer jenes Zyklus auf. Den Personalstil Giottos können wir deshalb bei diesen Bildern kaum isolieren.
 
Zwischen den gemalten Säulen des Rahmensystems wirken die Bildfelder wie Fenster, die Ausblicke freigeben in die gemalte Welt der Heiligenlegende. Diese Wirkung verdankt sich im Wesentlichen neuen Formen der Raumwiedergabe, die hier geradezu systematisch erprobt werden. Auffällig ist das veränderte Verhältnis der Figuren zu der sie umgebenden Architektur, die jetzt nicht mehr nur ein Staffageelement ist, sondern den Raum definiert, in welchem sich die Gestalten bewegen können. Bei der Szene, welche die Bestätigung der Regel durch den Papst wiedergibt, blicken wir in einen kastenförmigen Bühnenraum, der beinahe flächenfüllend mit dem Rahmen fest verspannt ist. Dieser Raumkasten nach Art eines Puppenhauses bot die Möglichkeit einer glaubhaften Innenraumdarstellung, welche in der Folgezeit viel rezipiert wurde. Mithilfe der Wiedergabe einzelner Elemente der physischen Realität, wie beispielsweise des an Haken aufgehängten und vor den Türen zurückgeschlagenen Wandbehanges, können die Unsicherheiten der Raumbehandlung gekonnt überspielt werden. Die Szene der Weihnachtsfeier in Greccio liefert uns die packende Schilderung eines Kircheninnenraums. Wir blicken aus der Apsis, also quasi von hinten, auf den Altar, an dem der zelebrierende Priester steht, und auf die Rückseite der Chorschranke mit der bekrönenden Kanzel und dem auf ihr angebrachten Tafelkreuz, dessen Verstrebungen und Aufhängung detailgetreu wiedergegeben sind. Der Kirchenraum selbst wird aber nicht genauer ausgeführt, vielmehr stehen die genannten Versatzstücke vor einem neutralen blauen Bildgrund. In anderen Szenen, wie der Lossagung vom Vater oder der Feuerprobe vor dem Sultan, werden einzelne, zum Teil unfunktionale Gebäudeteile vor dem gleichen blauen Grund zur kompositionellen Akzentuierung der Szenen genutzt. Auch die berühmte Wiedergabe der Vogelpredigt des Franziskus gibt keinen Landschaftsausblick wieder, sondern nur einen schmalen Bodenstreifen, auf dem nur zwei Bäume stehen, die aber mit dem ungleichmäßigen Wuchs ihrer Kronen und dem genau wiedergegebenen Blattwerk ebenso als Bravourstücke früher Naturdarstellung zu gelten haben wie die genau beobachtete und sehr anschaulich wiedergegebene Gruppe der Vögel. Auch in der Wiedergabe der Personen gelangt der Maler hier zu einer neuen Eindringlichkeit. So ist mithilfe der Mimik und Gestik bei der Vogelpredigt die liebevolle Zuwendung des Heiligen zu den Tieren ebenso treffend charakterisiert wie die zweifelnde Skepsis des Gefährten, der sich voller Unsicherheit am Strick seiner Kutte festzuhalten scheint. Die Fähigkeit, den emotionalen Spannungsgehalt eines Geschehens einzufangen, wird Giotto in seinen späteren Arbeiten noch weiter steigern. Diese neue Erzählhaltung kündigt sich in der Franziskuskirche in der Oberkirche von Assisi schon deutlich an, wobei hier aber entsprechend der oben skizzierten Aufgabe ein als dokumentarisch zu bezeichnender Realismus dominiert, welcher die Erfahrung der eigenen Gegenwart in die Bilder einbringt.
 
 Schaffenszeit in Padua
 
Im Anschluss an Assisi hat Giotto vermutlich in Rom gearbeitet. Aber auf sicherem Boden befinden wir uns erst bei der einige Jahre später ausgeführten Ausmalung der Arenakapelle in Padua. Diese Privatkapelle stiftete um das Jahr 1303 Enrico Scrovegni, einer der reichsten Männer der Stadt; er ließ sie als eigenständigen Kirchenbau mit öffentlichem Zugang neben seinem neuen Palast errichten. Etwa in den Jahren 1302—1305 hat Giotto den einschiffigen Saalraum mit einer kompletten Ausmalung versehen. Vieles ist hier neuartig und alles konsequent durchgeplant. Dies beginnt mit dem Rahmensystem, das eine aufwendige Mamorinkrustation vortäuscht und zugleich einen idealen Betrachterstandpunkt in der Raummitte definiert. Es schließt aber auch die einheitliche Lichtführung in allen Bildern ein, die auf das Hauptfenster der Westwand bezogen ist. In drei Bildstreifen übereinander schildert Giotto hier die Geschichte von der Geburt Mariens und ihrer Eheschließung sowie das Leben ihres Sohnes Jesus Christus. Dieser alte biblische Stoff wird hier jedoch in ganz neuer Weise erzählt. Giotto macht ihn zu einem psychologischen Drama, das die Empfindungen der Hauptakteure in den Mittelpunkt rückt. Dies sollte beim Betrachter Betroffenheit auslösen und ihn zu einem emotionalen Nachvollzug des heiligen Geschehens ermuntern. Die Aufgabe war also eine völlig andere als in Assisi, daraus erklärt sich auch ein Gutteil der Unterschiede. Gemeinsam sind aber beiden Zyklen der klare Bildaufbau, die große räumliche Tiefenwirkung und die detailgetreue Wiedergabe von Elementen der Natur und der Wirklichkeit.
 
Berühmt ist jenes Bild, in welchem ein Engel der betenden Anna die bevorstehende Geburt der Maria verkündet. Der aus Assisi bekannte Raumkasten ist hier in leichter Schrägansicht im Bildfeld isoliert, sodass durch die Einbeziehung des Außenbereichs der intime Charakter des Innenraums umso deutlicher wird. Außen herrscht ein hartes, fast gleißendes Licht, vor dem sich die Magd zum Spinnen in den Schatten der Treppe flüchtet. Im Inneren hingegen gibt es nur ein sehr gedämpftes Licht, und die Wände sind zur Decke hin stark verschattet. Die karge Einrichtung mit dem Bett hinter dem einfachen Vorhang, der verschlossenen Truhe, der Sitzbank und den wenigen an der Wand aufgehängten Gegenständen schlägt unmittelbar die Brücke zur Erfahrungswelt des damaligen Betrachters. Diese häusliche Atmosphäre ist aber zugleich Träger eines emotionalen Gehaltes, denn sie vermittelt anschaulich die in sich gekehrte Stimmung der privaten Andacht. Nicht minder berühmt ist die Darstellung der Gefangennahme Christi. In dem dichten Geschiebe der Figurengruppen fängt Giotto das Wirrwarr des Handgemenges ein, aber dennoch gibt es klare kompositionelle Linien, die alle strahlenförmig auf den Kopf Christi verweisen. Christus, der ganz umfangen ist von dem gelben Mantel des ihn umarmenden Judas, ist auf diese Weise in der Mitte des Geschehens isoliert. Hier entsteht ein ruhiger Pol, in dem der Maler die Physiognomien des Gottessohnes und des Verräters miteinander konfrontiert. Wir sehen die beiden Protagonisten in einem intensiven Blickkontakt während des verräterischen Bruderkusses. So ist hier nicht die dramatische Handlung das eigentliche Bildthema, sondern die emotionale Spannung in dem kurzen Moment vor dem Zugriff der Soldaten, bei der sich die bittere Enttäuschung Christi und das nagende Gewissen des Judas treffen.
 
In allen Szenen geht es Giotto um den emotionalen Gehalt der jeweiligen Begebenheit, den er auf sehr eindrückliche Weise herauszustreichen versteht. Es offenbart sich ein völlig neues Bildverständnis, das den gemalten Darstellungen eine ganz andere Wirkung zutraut. Giotto reagiert hier auf eine veränderte Erwartungshaltung einer Kultur gebildeter Laien, die sich in den Städten herausgebildet hatte und neue Gebets- und Andachtspraktiken entwickelte. Der Freskenzyklus der Arenakapelle setzt dies in eine Bildandacht um, bei der aber das Einzelbild immer nur als Stufe einer Abfolge zu begreifen ist. Die Folge der einzelnen Bilder ist immer genau kalkuliert und kompositionell sowie in ihrer Wirkung aufeinander abgestimmt. Der Malerei geht es hier also um ähnliche Anliegen wie der aufblühenden volkssprachlichen Literatur. Auch hier nimmt die Gefühlswelt der handelnden Personen einen immer größeren Raum ein. Von daher wird auch verständlich, dass Giovanni Boccaccio die Bilder Giottos derart bewunderte. Aber ebenso wie diese literarischen Werke setzen auch die Bilder Giottos ein hohes Reflexionsniveau voraus, wie dies die eingangs zitierten Äußerungen Boccaccios und Petrarcas betonen.
 
 Werke aus Florenz
 
Giottos gemalte Bildandacht, die mit ihren psychologischen Inszenierungen noch heute jeden beeindruckt, der sich auf die Sprache dieser Bilder einlässt, wurde schnell berühmt. Schon wenige Jahre nach Fertigstellung werden einzelne Formerfindungen sowie ganze Szenen von anderen Künstlern zitiert. Desgleichen finden sich literarische Äußerungen, die nicht nur den Bekanntheitsgrad der Ausmalung belegen, sondern auch deutlich machen, dass die Neuartigkeit dieser Malerei von den Zeitgenossen selbst empfunden wurde.
 
Einen wiederum anderen Charakter haben die späteren Ausmalungen von zwei Privatkapellen in der Florentiner Franziskanerkirche S. Croce. Die engen steilen Räume bieten nur Platz für wenige Bilder, deren querrechteckiges Format von der Architektur vorgegeben ist. (Giotto ordnet hier jeweils drei Szenen an den Seitenwänden übereinander an, die einmal Szenen aus dem Leben Johannes» des Täufers und Johannes» des Evangelisten zeigen (Peruzzikapelle, circa 1313—1315) sowie wiederum Szenen aus dem Leben des heiligen Franziskus (Bardikapelle, circa 1325).) Es handelt sich um ausbalancierte Kompositionen, die vor einer weitläufigen Architekturkulisse massige Figurengruppen postieren. Die Dramatik der Gesten wird auf diese Weise in eine statuarische Geschlossenheit eingebunden. Auch im Bereich der Tafelmalerei ist eine Reihe bedeutender Werke von Giotto erhalten. Er spielt eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung neuer Formen von Altarbildern, die seit dem Ende des 13. Jahrhunderts entstehen. Noch vor den Fresken in Padua ist vermutlich jenes Polyptychon für die Kirche der Badia, der Benediktinerabtei in Florenz, entstanden, das heute in den Uffizien zu sehen ist. Die Arkaden des Rahmens weisen jeder Figur ihren eigenen Raum zu und vereinigen sie zugleich zu einer gemeinsamen Gruppe.
 
Im gleichen Raum der Uffizien ist auch jenes großformatige Marienbild (325 cm ☓ 204 cm) zu sehen, das Giotto für den Orden der Humiliaten in Florenz gemalt hatte und das nach der Kirche, in der es ursprünglich hing, als Ognisanti-Madonna bezeichnet wird. Der kostbare Marmorthron mit seinen perspektivisch gemalten Seitenfronten schafft in dem Bild eine Art Schrein, in dem die Gottesmutter mit ihrem Kind regelrecht präsentiert wird und den die Heiligen und Engel verehrend umstehen. Nur nach vorne, zum Betrachter hin ist der Kreis dieses Heiligengefolges noch offen, hier wird er von der versammelten Bruderschaft geschlossen, die vor eben diesem Bild regelmäßig Mariengesänge anstimmte. Doch das erstaunlichste an dem Bild ist die körperliche Realpräsenz der Gottesmutter. Ein schwerer, dunkelblauer Mantel, der die Schönlinigkeit gotischer Faltenführung mit ihren verspielten Säumen bewusst vermeidet, hüllt den kräftig gebauten Körper ein. Kopf und Oberkörper werden aber ausgespart. In dieser Lichtzone des Mittelfeldes zeigt uns der Maler die heiligen Gestalten in atemberaubender Anschaulichkeit. Statt in schönliniger und körperloser Jenseitigkeit führt uns Giotto die Gottesmutter und ihr Kind in einem erfahrbaren Raum und in geradezu greifbarer Plastizität vor Augen.
 
Für Sankt Peter in Rom malte Giotto 1320 im Auftrag des Kardinals Stefaneschis ein großes, doppelseitig bemaltes Polyptychon, das heute in der vatikanischen Pinakothek verwahrt wird und in seiner Wirkung fast alle vergleichbaren Altarbilder in den Schatten stellt. Giotto integriert hier das porträtähnlich gemalte Bildnis des knienden Stifters in das Altarbild und kombiniert auf der einen Seite die majestätische Darstellung des thronenden Christus, der von Engeln umgeben ist, mit den dramatischen Szenen der Martyrien der beiden Apostelfürsten Petrus und Paulus.
 
Die profanen Bildwerke Giottos, von denen wir aus Quellen wissen, sind heute fast gänzlich verloren. Dies betrifft sowohl sämtliche Arbeiten, die Giotto für König Robert von Anjou in Neapel ausführte, und gilt in gleicher Weise für eine in ihrer Zeit berühmt gewordene Ausmalung im Palast der Florentiner Zunft der Wollhändler. Das astrologische Freskenprogramm im großen Versammlungssaal des Paduaner Rathauses, das um 1310 entstand, ist durch Übermalungen und spätere Restaurierungen weitgehend entstellt, sodass sich nur mühsam ein Eindruck von dem ursprünglichen Charakter gewinnen lässt. Einen nur unzulänglichen Ersatz für diese verlorenen profanen Bildprogramme können vielleicht jene berühmten Darstellungen der Tugenden und Laster bieten, die als Scheinskulpturen in Grisaille die Sockelzone der oben besprochenen Ausmalung in der Arenakapelle von Padua schmücken. Besonders das Bildpaar von Gerechtigkeit (Iustitia) und Ungerechtigkeit (Iniustitia) kann uns vielleicht eine Vorstellung von der antithetischen Argumentationsweise dieser verlorenen Bilder vermitteln. Die Gerechtigkeit sitzt in einer Thronnische, wie wir sie von den Marienbildern her kennen, und hält die Schalen einer vor ihr aufgehängten Waage sorgfältig im Gleichgewicht. Von diesen Waagschalen aus praktizieren zwei geflügelte Assistenzfiguren eben jene Gerechtigkeit, indem sie bestrafen (rechts) und Ämter sowie Ehren verteilen (links). Unterhalb der Allegorie sind auf einem Bildstreifen die positiven Auswirkungen jener Tugend zu sehen. Jäger und Reisende bewegen sich sicher auf allen Wegen, Männer und Frauen tanzen vergnügt in freier Natur. Das genaue Gegenbild zeigt die Darstellung der Ungerechtigkeit. Vor einer trutzigen Festungsmauer sitzt ein grimmiger Mann, der mit Krallenhänden seine Waffen hält. Der Wildwuchs der Bäume hat die Wege versperrt, und ungestraft überfallen Räuber die Reisenden und vergewaltigen die Frauen. Der neu entwickelte Illusionismus der Malerei steht hier im Dienst der Stadtrepubliken, die mit derartigen Kontrastbildern die ethischen Normen einer idealen Regierung und die Konzepte ihrer Verfassung propagieren.
 
Die von Giotto entwickelten neuen Sprachformen der Bilder haben das ganze 14. Jahrhundert hindurch eine umfangreiche Nachfolge gefunden. Vor allem die Florentiner Malerei der ersten Jahrhunderthälfte ist von seinem Vorbild völlig geprägt. Wie kaum ein zweiter Künstler verkörpert Giotto mit seinen erstaunlichen Neufassungen tradierter Themen eine entscheidende Phase des langwierigen Überganges vom Mittelalter zur Neuzeit, den man seit dem 19. Jahrhundert unter dem Oberbegriff Renaissance verbucht.
 
 
Malerei und Stadtkultur in der Dantezeit, herausgegeben von Hans Belting und Dieter Blume. München 1989.
 Michael Baxandall: Giotto and the orators. Taschenbuchausgabe Oxford1991.
 Francesca Flores d'Arcais: Giotto. Aus dem Italienischen. Berlin 1995.
 Anne Mueller von der Hagen: Giotto di Bondone. Um 1267-1337. Köln 1998.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем написать реферат

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”